Mittwoch, 1. April 2015

Das Gut-Mensch-Experiment: Der erste Kontakt

Lange habe ich mir darüber Gedanken gemacht: Wie nehme ich Kontakt zu meinen gesichtslosen Nachbarn auf? Stelle ich mich persönlich vor oder werfe ich einen handgeschriebenen, selbstgebastelten Zettel in die Briefkästen? Komme ich überhaupt an die Briefkästen oder befinden sich diese hinter verschlossener Tür? Wenn ja, klingele ich einfach? Aber dann hätte ich ja gleich den persönlichen Kontakt. Hm ... ich könnte ihnen das Zettelchen mit den aufgeklebten Frühblühern gleich von Angesicht zu Angesicht überreichen und vielleicht einen Filterkaffee abstauben.
Es ist wie immer im Leben. Alles hat seine Vor- und Nachteile. Daher habe ich mich für eine Mischform entschieden. Bei einer Hälfte werde ich persönlich vorstellig und die anderen bekommen einen Schriebs in den Briefschlitz.


Der erste Persönliche Kontakt:

Direkt gegenüber befindet sich ein Mehrfamilienhaus. Ich wohne seit 6 Jahren in unserer Wohnung, aber blicke bis heute nicht durch, wie viele Wohnungen sich in diesem Haus befinden. Scheinbar gibt es auf der nicht einsehbaren Rückseite noch unzählige Behausungen. Jedenfalls gehen dort ständig Leute ein und aus und ich denke mir immer: Wo kommen die denn alle her und wie passen die da alle rein?
Allerdings haben auch die Zeugen Jehovas das Potential dieses Hauses entdeckt, denn sie kampieren regelmäßig vor der Eingangstür und blicken gebannt auf ihre Mitgliederliste. Ob ich schon Pluspunkte sammeln kann, wenn ich sie verjage?
Nun ... ich dachte mir, dass genau dieses ominöse Haus genau das richtige für den Anfang sei. Vielleicht bekomme ich so auch endlich heraus, was sich hinter der Wohnung im 2. Obergeschoss verbirgt, bei der noch niemals in den 6 Jahren die Rollos hochgezogen wurden und aus der man gelegentlich eine laut schimpfende Stimme in gebrochenem Englisch (mit afrikanischem Akzent) hört: "You have to pay the Money!"

Unten rechts wohnt eine ältere Dame, die einen osteuropäischen Akzent hat. Bis vor ein paar Jahren hatte sie so einen modischen Taschenhund, den sie immer im Jutebeutel mit sich herumtrug. Nach dessen Tod hatte sie sich aber überraschenderweise keinen Neuen angeschafft.
Für den Anfang hatte ich mir also das Ömchen auserkoren und klingelte dort, wo ich vermutete, dass ihr Klingelschild sei. Wie ich es erwartet hatte, antwortete sie mir nicht durch die Gegensprechanlage und öffnete auch nicht einfach, sondern kam ans Fenster.
Mit einem langgezogenen "Ja, biiittee?" starrte sie mich fragend durch ihre dicken Brillengläser an. (wenn ich die Lichtbrechung richtig berechnet habe)
"Hallo, Fau Sowieso! Sie kennen mich sicher vom Sehen. Ich wohne gegenüber und führe gerade ein Projekt zur guten Nachbarschaft durch."
"Wie sie machen? Müssen lauter sein!", bekam ich zur Antwort.
Ich merkte schon, dass ich meine Wortwahl etwas vereinfachen sollte. "Könnte ich kurz vor ihre Tür kommen? Dann müssen wir nicht so schreien."
Sie blickte noch immer durch diese Lupen und ihre Miene blieb versteinert. Ich zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die Haustür und setzte einen fragenden Blick auf.
"Ah ... da!" Sie verschwand vom Fenster und betätigte den Summer.
Ich ging die vier Stufen nach oben und wartete, bis sie die Tür ihrer 1-Zimmer-Wohnung öffnete.
"So ... also, ich möchte gerne etwas für meine Nachbarn tun, damit wir uns besser kennenlernen. Deshalb habe ich mir gedacht ..."
"Ja ... Nachbarn. Ich wohne laaange hier."
"Genau. Und damit man sich als Nachbarn auch einmal kennenlernt, möchte ich gerne meine Hilfe anbieten. Wenn Sie mal irgendetwas haben, bei dem ich ihnen helfen kann, melden sie sich einfach bei mir. Sie wissen ja wo ich wohne." Sie lachte. Aber es war ein unsicheres Lachen. So, als habe sie gar nicht verstanden worum es ging. Doch ich war vorbereitet und drückte ihr meinen vorbereiteten Zettel in die Hand. Sie hielt ihn sich einen Zentimeter vor die Nase und sagte kurz angebunden: "Vielen Danke."
Dann schloss sie die Tür.

Da ich nun schon einmal im Haus war, versuchte ich es gleich bei der anderen Wohnung im Erdgeschoss, doch öffnete mir niemand. Ich begab mich ins erste Obergeschoss, wo mir eine noch ältere Dame entgegenkam, die ich nur vom Sehen kannte, da sie immer ihr Mittagschläfchen auf dem Balkon hielt, wenn die Sonne schien.
"Guten Tag", begrüßte ich sie freundlich.
Sie blickte erschrocken auf, wobei ihr fast das leere Einkaufsnetz aus der zitternden Hand fiel.
"Hallo, ich bin ihr Nachbar von Gegenüber und ich setzte mich gerade für eine bessere Nachbarschaft ein. Darum möchte ich allen Nachbarn bei einer Sache ihrer Wahl helfen. Sollten sie also einmal Hilfe benötigen ..."
"Ich kenne sie", sagte sie, als hätte sie gerade mal die ersten zwei Worte von mir verstanden.
Ich nickte. "Genau. Falls sie mal Hilfe brauchen ...", begann ich und gab auch ihr den Zettel.
Sie las aufmerksam und ich wendete ihn mehrfach.
"Können Sie bitte für mich einkaufen gehen?", fragte sie schließlich mit flatternder Stimme.
"Aber natürlich. Deshalb frage ich ja, ob ich ihnen behilflich sein kann." Ich war froh, dass es sich um eine vergleichsweise einfache Aufgabe handelte. Was würde so eine alte Dame schon großartig benötigen? "Sagen Sie mir einfach, wann sie den Einkauf benötigen", bot ich großzügig an.
"Ich wollte gerade losgehen." Eine Antwort, die mir gar nicht schmeckte. Mein Zeitplan hatte an diesem Tag eigentlich keinen Einkauf vorgesehen, aber versprochen war versprochen. Ich konnte doch nicht gleich beim ersten Auftrag einen Rückzieher machen oder sie auf später vertrösten.
"Ähm ... ja ... gut ... Sie ... also ... haben Sie denn einen Einkaufszettel?", stammelte ich, um den Eindruck zu erwecken, dass ich dafür eigentlich gar keine Zeit hatte.
Sie nickte und zog einen feinsäuberlich zusammengefalteten Zettel aus ihrer Jackentasche. Ich nahm ihn entgegen, faltete ihn langsam auseinander und hoffte inständig, dass weniger als 10 Wörter darauf stehen würden.
"Oh ...", entfuhr es mir, "... altdeutsche Schrift."
Wir einigten uns darauf, dass sie mir alles noch einmal vorlesen sollte, damit ich es in mein Smartphone speichern könnte. Glücklicherweise handelte es sich lediglich um 6 Artikel:

Haftcreme
Kamillentee
5kg Kartoffeln
1 Kasten stilles Wasser
1 Päckchen Kaffee
1 Flasche Obstbrand

Ich nahm das Einkaufsnetz, begab mich zur nahegelegenen Kaufhalle und packte gleich noch ein paar Sachen in den Wagen, die ich selbst gebrauchen konnte. Knackwurst, Porree, Harzer Roller ...
Man muss das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.
Als ich wieder bei der Dame vor der Tür stand, strahlten mir ihre Dritten entgegen und ich war froh, dass sie nun neue Haftcreme bekam, damit sie an Ort und Stelle bleiben konnten. Die Frau bedankte sich überschwänglich und fragte wann ich wieder vorbeikommen würde ...

Ups ... das hatte ich gar nicht bedacht. Ein kurzer Schockmoment machte mir bewusst, dass es durchaus mehrere (vor allem ältere) Nachbarn geben könnte, die den Fakt mit dem "einmalig" nicht verstehen würden.
Aber eines meiner Mottos ist es, möglichst ehrlich zu sein. Die Wahrheit ist zwar manchmal hart, aber sie lässt sich nicht verbiegen.
"Tut mir leid, Frau Dingens. Ich möchte zunächst allen Nachbarn einmalig meine Hilfe anbieten. Da wird es in nächster Zeit schwierig, nochmals für sie einkaufen zu gehen."

Damit verpuffte die anfängliche Freude und Dankbarkeit der alten Damen zum Teil wieder.
Interessant!

Nach diesen ersten beiden Kontakten werde ich ein wenig abwarten und in den nächsten Tagen erneut 2 oder 3 Nachbarn behelligen. Eventuell meldet sich auch noch die Frau mit dem osteuropäischen Akzent, sofern sie doch noch mein Anliegen versteht.


Forstetzung folgt ...




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