Dienstag, 21. April 2015

Das Gut-Mensch-Experiment: Der Griesgram und seine Frau

Neuer Tag, neues Glück. Also machte ich mich auf, zu meinen Nachbarn vom Haus gegenüber.
Das letzte Mal hatte ich die Bewohner aus der linken Erdgeschosswohnung nicht angetroffen, also standen sie ganz oben auf meiner Liste. Ich klingelte und es wurde mir direkt geöffnet, ohne die Gegensprechanlage zu bemühen.
An der Wohnungstür angekommen, wartete ich einen kurzen Moment, bis mir ein kleiner, untersetzter Mann mit grauem Haarkranz und ebenso grauem Schnauzer öffnete. Mürrisch blickte er mich von oben bis unten an und brummte mit Ach und Krach ein "Hmm?!" hervor.
Ich leierte meinen Text runter und erzählte ihm von guten Nachbarn, Hilfsbereitschaft und dem Gemeinschaftsgefühlt. Er blickte stumm auf den Zettel, den ich ihm in die knubbelige Hand gedrückt hatte. "Kann ich nich' gebrauchen", nuschelte er in seinen Schnauzbart, drehte sich um und schlug mir die Tür vor der Nase zu.
Das ging aber schnell, dachte ich und blieb verdutzt im Treppenhaus stehen. Ich hörte, wie in der Wohnung eine Frauenstimme lauter wurde. Die Wände scheinen aus Pressspan zu sein, denn ich verstand nahezu jedes Wort.
"Wer war das?", fragte die Frau.
"Ach, nich' so wichtig." Ich stellte mir vor, wie der Mann mit seiner dicken Hand abwinkte.
"Was hast'de da für'n Zettel?"
"Kann gleich in' Müll!"
"Zeig doch mal." Eine Weile wurde es still. "Und wieso sagst'de na nüscht von?", begann die Frau zu meckern. "Dir kann's ja egal sein. Du bist die ganze Woche nicht da! Aber ich ..."
"Jaja!", unterbrach sie der Mann genervt. "Das ist sicher so'n verkappter Kommi. Ist doch wie zu Zonezeiten. Alle für einen und der ganze Quark. Gemeinsam sind wir stark und gemeinsam rauben wir die Nachbarn aus."
"Quatsch!", rief die Frau und schlurfende Schritte entfernten sich. Eine Tür wurde zugeschmissen.
Plötzlich öffnete sich die Wohnungstür erneut und der grummelige Mann sah mich erzürnt an. Ohne ein Wort zu sagen, machte ich auf dem Treppenabsatz kehrt und begab ich nach draußen.

Zwei Tage später erhielt ich einen Anruf: "Hallo, hier ist Frau Dingens von gegenüber."
Ich fragte, was ich für sie tun könne.
"Nun, ich würde gern die Gagen waschen und komm nich' allein rauf."
"Die Gagen?" Wollte sie Schwarzgeld waschen? Aber dann fiel mir ein, dass sie die Gardinen meinte. Weinrote Vorhänge mit Goldfäden. Die schönsten Gardinen in der ganzen Straße. Ständig wusch sie diese schweren Lappen. Sonst hatte sie doch auch nie Hilfe benötigt. "Macht das nicht sonst ihr Mann?"
"Ja, schon ... aber der is' auf Montage und sie sind ziemlich dreckch."
"Wann benötigen sie denn meine Hilfe?"
"So schnell wie möglich."
"Würde heute Nachmittag, so gegen Fünf, passen?"
Sie sagte zu und ich stand pünktlich vor ihrer Wohnung.
Als ich das altmodisch gestaltete Wohnzimmer betrat, leuchteten mir aus einer Ecke Neonröhren entgegen. Ein riesiges Terrarium. Allerdings sah ich nicht, was sich darin befand.
"Eine Tigerpython", erklärte mir die Dame mit der rostbraunen 80er-Jahre-Dauerwelle und dem bunten Brillengestell.
"Aha."
Entweder war dem Mann eine echte Schlange lieber, als seine Frau oder es war ein Überbleibsel der ausgezogenen Kinder.
Vor den Fenstern stand eine Standard-Metall-Klappleiter. Ich stieg hinauf und hob die schweren Vorhänge hinunter.
"Wissen sie, normalerweise ist mein Mann nicht so mürrisch, aber ...",
Die Hälfte von ihrem Redeschwall bekam ich nicht mit, da ich mit den verhedderten Gardinen beschäftigt war.
"... also machen sie sich darüber keine Gedanken."
"Nein, keine Sorge", antwortete ich, obwohl ich gar nicht wusste, worum es ging.
"Da bin ich ja beruhigt", sagte sie, als ich von der Leiter stiegt. Sie griff in die Tasche ihrer wollenen Strickjacke mit den großen Holzknöpfen und zauberte einen 10-Euro-Schein heraus. "Für ihre Mühe."
Ich lehnte ab, denn genau das wollte ich nicht. "Tut mir leid, aber ich helfe ausschließlich umsonst."
"Ach kommen sie! Da kaufen sie ihrer Tochter eben ein Eis für."
Ich schüttelte den Kopf und dachte darüber nach, wie groß wohl ein 10-Euro-Eis sein würde. Zumindest würde es für ein Kopfkissen voller Erbrochenem reichen.
"Die bekommt auch so genug Eis, aber danke. Ich muss dann auch weiter ..."
Sie folgte mir mit dem Geldschein wedelnd, bis zum Ausgang.
"Vielen Dank!", rief sie mir hinterher.
Ich war einfach froh, diese Aufgabe hinter mir zu haben. Da würde ich mich noch auf einige Gehweg-Gespräche einstellen müssen.

Einen Tag später fand ich 10 Euro im Briefkasten. Ich spendete sie talentierten Straßenmusikern in der Innenstadt ...


Fortsetzung folgt ...






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